AG Dorsten urteilt mit bedenklicher Begründung zu einem Schadensfall, in dem der Geschädigte fiktiv abrechnen will, mit Urteil vom 19.9.2017 – 3 C 94/17 -.

Hallo verehrte Captain-Huk-Leserschaft,

hier und heute stellen wir Euch zwar spät, aber nicht zu spät, ein Urteil aus Dorsten zur fiktiven Schadensabrechnung vor. Das Urteil ist im Ergebnis zwar richtig, in der Begründung jedoch leider mehr als bedenklich. Sofern der Sachverständige mit durchschnittlichen Stundenverrechnungssätzen einer freien Werkstatt kalkuliert, habe die Versicherung kein Recht zum Verweis auf eine günstigere Alternativwerkstatt? Wieso das denn? Unserer Meinung nach kann man in so einem Fall doch erst Recht auf andere Werkstätten verweisen, sofern der Geschädigte mit seinem Gutachten zum Ausdruck bringt, dass er nicht in der Markenwekstatt reparieren lassen will. Dann spielt es doch gar keine Rolle, wo er letztendlich die Karre zusammenschustern lässt. Hier etabliert sich auf leisen Sohlen wieder eine (falsche) Rechtsprechung am Porsche-Urteil vorbei. Erinnert ein wenig an den Mittelwertschrott Fraunhofer/Schwacke bei den Mietwagen. Ist zwar alles völliger juristischer Nonsen, aber Hauptsache das Gericht kann sich vor dem Absaufen an irgendeinen Strohhalm klammern. Richtig wäre gewesen, dass bei der fiktiven Abrechnung der Geschädigte – gemäß BGH – grundsätzlich Anspruch auf die Stundenverrechnungssätze der markengebundenen Fachwerkstatt hat. Sofern der Sachverständige bei einem „Fiktivgutachten“ mit „durchschnittlichen Stundenverrechnungssätzen“ kalkuliert, ist das Gutachten schlichtweg „unbrauchbar“. Denn es handelt sich um einen Verstoß gegen die BGH-Grundsätze. Das Gericht hätte also nicht nur den Verweis auf eine andere Werkstatt der Versicherung zulassen müssen, sondern hätte auch einen Hinweis geben können, dass das Gutachten falsch ist unter Verweis auf die Regressmöglichkeit der Sachverständigenkosten. Was denkt Ihr?

Viele Grüße
Willi Wacker

3 C 94/17

Amtsgericht Dorsten

IM NAMEN DES VOLKES

Urteil

In dem Rechtsstreit

des Herrn …

Klägers,

gegen

die …

Beklagte,

hat das Amtsgericht Dorsten
im vereinfachten Verfahren gemäß § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung am
19.09.2017
durch die Richterin am Amtsgericht B.

für Recht erkannt:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 184,05 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 03.02.2017 zu zahlen.

Die Beklagte wird weiter verurteilt,  den  Kläger von den Verbindlichkeiten gegenüber den Rechtsanwälten … in Höhe von 83,54 €, entstanden im Zusammenhang mit der Beauftragung vom 24.03.2017 und der entsprechenden außergerichtlichen Tätigkeit, freizustellen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

Ohne Tatbestand (gemäß § 313a Abs. 1 ZPO).

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Parteien streiten um restliche Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 15.12.2016. Die vollständige Einstandspflicht der Beklagten für die Schäden aus dem Verkehrsunfall ist zwischen den Parteien unstreitig. Streit besteht hinsichtlich der Höhe der Netto-Stundenverrechnungssätze, welche von der Beklagten nicht in voller Höhe reguliert wurden. Die Beklagte ist insoweit der Ansicht, dass sich der Kläger im Rahmen seiner Schadensminderungspflicht auf die von ihr aufgezeigte günstigere Reparatur in einer Alternativwerkstatt verweisen lassen müsste. Der Kläger ist hingegen der Ansicht, dass ein solcher Verweis vorliegend nicht zulässig sei, da der Kläger mit der Klage lediglich durchschnittliche Stundenverrechnungssätze einer freien Fachwerkstatt geltend mache.

Das Gericht ist vorliegend der Ansicht, dass dem Kläger die weiteren Netto-Reparaturkosten in Höhe von 184,05 € aus § 7, 17 StVG, 115 VVG zustehen. Da die grundsätzliche Einstandspflicht der Beklagten unstrittig ist, ist lediglich über die Frage zu entscheiden, ob sich der Kläger bei fiktiver Abrechnung im Rahmen der Schadensminderungspflicht gemäß § 254 BGB auf die von der Beklagten in Bezug genommene Alternativwerkstatt verweisen lassen muss.

Das Gericht verneint diese Frage.

Ziel des Schadensersatzes ist die Totalreparation. Grundsätzlich ist ein Geschädigter unter dem Gesichtspunkt der Schacfensminderung gehalten, im Rahmen des ihm Zumutbaren den wirtschaftlicheren Weg der Schadensbehebung zu wählen, sofern er die Höhe der für die Schadensbeseitigung aufzuwendenden Kosten beeinflussen kann. Dabei genügt es jedoch im Allgemeinen, dass er den Schaden auf der Grundlage eines von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens berechnet, sofern das Gutachten hinreichend ausführlich ist und das Bemühen erkennen lässt, dem konkreten Schadensfall vom Standpunkt eines wirtschaftlich denkenden Betrachters gerecht zu werden. Die Schadensrestitution darf nicht auf die kostengünstigste Wiederherstellung der beschädigten Sache beschränkt werden (vgl: BGH, VersR 2003, 920; OLG München, Urteil vom 13.09.2013, Az.: 10 U 859/13 – zitiert nach juris). Auch bei der fiktiven Abrechnung ist der Geschädigte frei in der Wahl der Mittel zur Schadensbehebung (vgl.: BGH, NJW 2005, 1108).

Diesen Grundsätzen und der dem Geschädigten grundsätzlich eingeräumten Dispositionsfreiheit widerspräche es, wenn sich der Geschädigte bei fiktiver Abrechnung auf die Stundenverrechnungssätze, der von der Versicherung ausgesuchten Alternativwerkstatt verweisen lassen müsste. Das Gericht folgt zwar grundsätzlich der Ansicht, dass sich ein Geschädigter im Rahmen der Schadensminderungspflicht auf eine kostengünstigere Reparatur in einer nicht markengebundenen Fachwerkstatt verweisen lassen muss (vgl u.a.: OLG Hamm, Urteil vom 28.03.2017, Az.: 26 U 72/16); um einen solchen Fall geht es vorliegend jedoch nicht.

Der Reparaturkalkulation des Sachverständigen … liegen durchschnittliche Stundenverrechnungssätze einer freien Werkstatt in Dorsten zu Grunde. Dies ergibt sich aus den „Erläuterungen zur Kalkulation“ (Seite 11 d. Gutachtens, Bl. 19 d. GA) und ist von der Beklagten auch nicht in Abrede gestellt worden. Es waren also gerade keine Preise einer markengebundenen Fachwerkstatt kalkuliert. Da der Kläger diese Kalkulation zugrunde gelegt hat, hat er auch nicht gegen seine Schadensminderungspflicht verstoßen, da er sich nicht auf die günstigsten erzielbaren Preise verweisen lassen muss, da bereits durchschnittliche Stundenverrechnungssätze einer freien Fachwerkstatt kalkuliert wurden (vgl.: AG Gelsenkirchen, Urteil vom 14.02.2017, Az.: 201 C 177/16; OLG München, Urteil vom 13.09.2013, Az.: 10 U 859/13 – jeweils zitiert nach juris). Ein Verweis auf eine kostengünstigere Reparaturmöglichkeit in einer anderen freien Werkstatt würde die Dispostionsfreiheit des Geschädigten in unzulässiger Weise einschränken.

Der Zinsanspruch ist unter Verzugsgesichtspunkten gerechtfertigt, §§ 286, 288 BGB. Die Beklagte hat mit Schreiben vom 02.02.2017 endgültig mitgeteilt, dass weitere Reparaturkosten von ihr nicht ersetzt werden.

Die Berechtigung der geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ergibt sich aus den §§ 7, 17 StVG, 115 VVG.

Die prozessualen Nebenentscheidungen basieren auf den §§ 91, 708 Nr. 11, 711,
713 ZPO.

Die Berufung war nicht zuzulassen. Ein Anwendungsfall des § 511 Abs. 4 Ziffer 1 ZPO liegt nicht vor. Die Sache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch ist die Berufungszulassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Es liegt insbesondere keine Abweichung von der gefestigten Rechtsprechung des BGH vor. Diese bezieht sich auf die Verweisungsmöglichkeit bei fiktiver Abrechnung auf Grundlage der Kosten einer markengebundenen Fachwerkstatt. Um einen solchen Fall geht es vorliegend jedoch gerade nicht.

Der Streitwert wird auf 184,05 EUR festgesetzt.

Urteilsliste “Fiktive Abrechnung“ zum Download >>>>>

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5 Antworten zu AG Dorsten urteilt mit bedenklicher Begründung zu einem Schadensfall, in dem der Geschädigte fiktiv abrechnen will, mit Urteil vom 19.9.2017 – 3 C 94/17 -.

  1. Glöckchen sagt:

    Ein Amtsgericht,das die obergerichtliche Rechtsprechung korrekt umsetzt,verdient keine Urteilsschelte!
    Ergebnis richtig,Begründung gut vertretbar,also gutes Urteil!
    Wenn man hier schon auf jemanden eindreschen will,dann doch bitte auf den Versicherer,welcher in offensichtlich höchster finanzieller Not befindlich allen Ernstes mittlere Stundensätze noch weiter auf niedrigste Stundensätze gekürzt hat.
    Eine beinahe schon krankhafte,wohl aus extremer finanzieller Not geborene,vielleicht sogar strefrechtlich relevante Unterschlagung von Geld,das dem Unfallopfer zweifelsohne zusteht.
    Klingelingelingelts?

  2. Bruno sagt:

    @Glöckchen

    „Ein Amtsgericht,das die obergerichtliche Rechtsprechung korrekt umsetzt,verdient keine Urteilsschelte.“

    Wo wurde hier die obergerichtliche Rechtsprechung korrekt umgesetzt?

    BGH – Grundsatz 1: Der Geschädigte hat grundsätzlich Anspruch auf die Stundenverrechnungssätze der markengebundenen Fachwerkstatt.

    => eklatanter Fehler des Gutachters – Verstoß gegen die BGH-Rechtsprechung, sofern er mit durchschnittlichen Stundenverrechnungssätzen freier Werkstätten operiert.

    BGH – Grundsatz 2: Der Schädiger kann auf eine andere (günstigere) Werkstatt verweisen, sofern er darlegt und ggf. beweist, dass diese ohne weiteres zugänglich ist und die Reparatur in der Verweiswerkstatt gleichwertig ausgeführt werden kann.

    Maßgeblich ist hierbei also nur das Reparaturergebnis!

    Das Festhalten an dem Begriff „Markenwerkstatt“ ist pure Haarspalterei.

    Bei einer Revision gegen das Urteil des AG Dorsten käme der BGH zum gleichen Ergebnis wie der Vorspann von Willi Wacker. Bei einer gleichwertigen Reparatur spielt es keine Rolle, ob von einer Markenwerkstatt, von einer freien Werkstatt oder von irgendeinem Mittelwert dieser Werkstätten wegverwiesen wird.

    Nicht zu vergessen, der Urvater aller Fiktivurteile (VI ZR 398/02)

    „Der Geschädigte, der fiktive Reparaturkosten abrechnet, darf der Schadensberechnung die Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt zugrunde legen. Der abstrakte Mittelwert der Stundenverrechnungssätze aller repräsentativen Marken- und freien Fachwerkstätten einer Region repräsentiert als statistisch ermittelte Rechengröße nicht den zur Wiederherstellung erforderlichen Betrag.“

    Sofern also der (höhere) Mittelwert aller freien und markengebundenen Fachwerkstätten den erforderlichen Betrag nicht repräsentiert, dann ist der (geringere) Mittelwert der freien Fachwerkstätten wohl erst recht völlig daneben?

    „Mittelwertgutachten“ sind schlichtweg unbrauchbar.

    Es verwundert schon ein wenig, das dieser Leitsatz des BGH-Urteils auch nach nunmehr 15 Jahren bei vielen „Sachverständigen“ noch nicht angekommen ist und nach wie vor mit „mittleren Stundenverrechnungssätzen“ operiert wird. Oder die haben allesamt kein Rückgrad und spielen beim Wunschkonzert der Versicherer geschmeidig mit.

    Auf alle Fälle ist das Urteil alles andere als eine „korrekte Entscheidung“.

    Ein erfreuliches Ergebnis vielleicht – aber mehr auch nicht.

  3. Kein ortsüblicher SV sagt:

    Diese ortsüblichen mittleren SV möchten gegenüber dem Kunden nun mal als antastlose Helden dastehen und sagen können „Ja, also meine Gutachten werden in der Regel nicht gekürzt!“ und „Sie bekommen das, was in meinem Gutachten schwarz auf weiß steht, ich bin Profi und werde geachtet.“

    Wiederrum der ehrlich dumme SV sich gut eine Stunde extra Zeit nimmt und dem fiktiv Abrechnenden haarklein erklärt wieso er nicht das bekommt was in seinem Gutachten drinsteht und wieso dies nicht die Schuld des SV ist, sondern des zerbrochenen Systems das der Geschädigten vllt. selbst mit seinem noch gestern bei check24 neu abgeschlossenen Versicherungsvertrag mit unterstützt.

    Und wie wir alle wissen: Wer sich erklären muss, der kann nicht im Recht sein, nicht gut sein, den meidet man in Zukunft lieber…

    Ah, lassen wir dies erneute verdammte Jahr systematischer Kürzungen doch leise ausklingen. Im kommenden Jahr werden wir den Scheiß noch weiter ertragen müssen. Auf ein Neues! Frohes Fest und guten Rutsch!

    Anderen einen weniger guten, denn wir brauchen Arbeit auch im neuen Jahr!

  4. RARau sagt:

    Die BGH-Entscheidungen werden mE missinterpretiert.

    Wie zutreffend erwähnt wurde, heißt es hierin doch „Der Geschädigte, der fiktive Reparaturkosten abrechnet, darf der Schadensberechnung die Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt zugrunde legen.“
    Er darf. Er muss es aber doch nicht, d.h. er darf doch auch mittlere Sätze einer freien Werkstatt in Ansatz bringen, wenn absehbar ist, dass nach den weiteren angesprochenen Grundsätzen der BGH-Rechtsprechung ansonsten eine erfolgreiche Verweisung erfolgen wird (Fahrzeug älter als drei Jahre, nicht lückenlos scheckheftgepflegt und Geleichwertigkeit der Verweiswerkstatt vom zuständigen AG schon zigfach bestätigt).

    Deswegen halte ich es für völlig richtig, wenn SV außerhalb der klaren Fallgruppen für Markensätze mittlere Sätze einer freien Werkstatt zugrunde legen und für falsch, zu meinen, auch dann könnte noch – oder erst recht dann – verwiesen werden. Wo soll bei mittleren Sätzen einer freien Werkstatt denn der Ansatz für einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht liegen?

    Wer behauptet, immer die Sätze einer Markenwerkstatt durchgesetzt zu bekommen, muss überwiegend an Gerichten tätig sein, die ich nach meiner Erfahrung nicht für repräsentativ halte.

    AG Dorsten liegt mE völlig richtig.

  5. Iven Hanske sagt:

    # RaRau
    Sorry, aber Mittelwerte sind doch der größte Unsinn und aus allen Richtungen angreifbar, da diese nur statistisch und nicht real sind. Der BGH (insbesondere Richter Wellner), hat leider auch in die Richtung Verweisung an die billige und abhängige Werkstatt (neulich selbst ohne Meister) zum Vorteil der Versicherer einen Eiertanz ermöglicht, was den seriös und vernünftig kalkulierenden Werkstätten ihre Kunden weg nimmt und den Geschädigten zum unsicheren Verkehrsteilnehmer vergewaltigt.

    Zu den Mittelwerten gab es aber eine klare Absage vom BGH:
    BGH VI ZR 398/02 vom 29. April 2003.

    „Der Geschädigte, der fiktive Reparaturkosten abrechnet, darf der Schadensberechnung die Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt zugrunde legen. Der abstrakte Mittelwert der Stundenverrechnungssätze aller repräsentativen Marken- und freien Fachwerkstätten einer Region repräsentiert als statistisch ermittelte Rechengröße nicht den zur Wiederherstellung erforderlichen Betrag.“

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